Die neuen EAWS-Schneedeckenstabilitätsklassen
Die Vereinigung der europäischen Lawinenwarndienste (EAWS) hat die Matrix zur Bestimmung der Lawinengefahrenstufe überarbeitet (vgl. Abb. 1). Im Zuge dessen wurden vier Schneedeckenstabilitätsklassen eingeführt und definiert.
Für Wintersportler ist besonders wichtig zu erkennen, ob und durch welche Zusatzbelastung Lawinen ausgelöst werden können – in anderen Worten: Besteht die Gefahr eines Schneebrettabgangs, wenn ich diesen Hang befahre? Die vier neuen Stabilitätsklassen liefern dazu konkrete Hinweise: „Sehr schlechte Stabilität“ bedeutet, dass eine Lawinenauslösung sogar von selbst, also ohne die Zusatzbelastung einer Wintersportlerin, möglich ist. „Schlechte Stabilität“ heißt, dass ein Schneebrett durch geringe Zusatzbelastung, also zum Beispiel durch eine einzelne Skifahrerin ausgelöst werden kann. Wenn eine Schneebrettauslösung nur durch große Zusatzbelastung möglich erscheint, also zum Beispiel durch eine Fußgängerin oder durch eine Gruppe Skifahrerinnen ohne Entlastungsabstände, dann sprechen Lawinenwarner und Lawinenwarnerinnen von „mittlerer Stabilität“. „Gute Stabilität“ bedeutet, dass eine Lawinenauslösung nicht oder nur durch extrem große Zusatzbelastung wie z. B. durch eine Sprengung denkbar ist.
Strukturiertes Vorgehen bei der analytischen Beurteilung der Schneebrettgefahr
Bei der analytischen Beurteilung der Schneebrettgefahr überprüfen wir an einem sicheren Standort, ob die schneephysikalischen Voraussetzungen für einen Schneebrettabgang im fraglichen Einzelhang gegeben sind. Diese sind:
- Hangsteilheit > 30°
- Vorhandensein von Brett und Schwachschicht
Während die Hangsteilheit leicht bestimmt werden kann, müssen wir zur Beantwortung des zweiten Aspekts einen Blick in die Schneedecke werfen. Mit Hilfe des Prozessdenkens und der Informationen aus dem Lawinenlagebericht suchen wir dazu einen Ort, der bezüglich des Schneedeckenaufbaus vergleichbare Bedingungen aufweist wie der zu beurteilende Einzelhang, den wir aber ohne uns in Gefahr zu bringen, erreichen können. Die Schneemächtigkeit ist hier optimalerweise etwas unterdurchschnittlich. Mit dem anschließenden Blick in die Schneedecke suchen wir am Teststandort gezielt nach Antworten auf folgende Fragen: Findet sich eine Kombination aus Brett und Schwachschicht? Wenn ja, welche Eigenschaften haben die beiden Schichten und wie sind diese Eigenschaften hinsichtlich Bruchinitiierung und -fortpflanzung zu bewerten? Welche Prozesse haben zu diesem Schneedeckenaufbau geführt? Und zuletzt: Ist zu erwarten, dass diese Prozesse so auch im zu beurteilenden Einzelhang stattgefunden haben? Wenn die letzte dieser Fragen mit „ja“ beantwortet wird, dann kann eine Gefahreneinschätzung für den fraglichen Einzelhang erfolgen. Im Rahmen eines risikobewussten Entscheidungsprozesses können wir dann die passenden Maßnahmen wählen, um mit der Gefahr umzugehen.
Die Schneedeckentests ECT und KBT
Es gibt zahlreiche Schneedeckenstabilitätstests zur Beurteilung der Gefahr trockener Schneebretter. Im Lawinenwarndienst Bayern hat sich der KBT bewährt. International hat sich der ECT aufgrund seiner Praktikabilität gegenüber dem aufwändigeren „Rutschblock“ (RB) durchgesetzt. Bis zuletzt fehlte jedoch eine einfache und eingängige Methode, die von einem Testergebnis direkt zu einer Aussage über die Stabilität führte. Die meisten bisher veröffentlichten Testinterpretationen wurden im wissenschaftlichen Kontext entwickelt und sind für die Praxis nur bedingt geeignet.
Im Lauf der letzten drei Winter haben die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der bayerischen Lawinenwarnzentrale neben dem KBT auch den ECT in die Ausbildung des bayerischen Lawinenwarndienstes aufgenommen und sich intensiv mit den beiden Schneedeckentests und ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen auseinandergesetzt. Der größte Unterschied in der Durchführung der Tests ist die Richtung, aus welcher der Testblock belastet wird: beim KBT von der Seite und beim ECT von oben. In der Praxis bringen die beiden Tests an den meisten Teststandorten vergleichbare Ergebnisse hervor und bestätigen sich gegenseitig. Manchmal weichen Testergebnisse am selben Standort aber auch markant voneinander ab. Wenn sie das tun, dann deckt in der Regel einer der Tests eine potentielle Schwachschicht auf, welche der andere „übersieht“. In vielen Situationen es daher sinnvoll, beide Tests durchzuführen. Mit dem KBT lassen sich Schwachschichten auch in großer Tiefe und bei weicher Schneeauflage zuverlässig aufspüren, der ECT liefert eindeutigere Erkenntnisse zu benötigter Zusatzbelastung und Bruchausbreitung. Mit Hilfe der Erkenntnisse, die die kompetente Testerin so beim Blick in die Schneedecke erhält, und des Verständnisses der Prozesse, die in der Schneedecke ablaufen, lassen sich in der Regel auch Unterschiede erklären. So können eindeutige Schlussfolgerungen und brauchbare Aussagen zur Schneedeckenstabilität abgeleitet werden.
Die Daumenmethode – vom Testergebnis zur Stabilitätsklasse
Schneedeckentests machen in der Regel vereinfachte Aussagen zur Wahrscheinlichkeit von Bruchinitiierung und Bruchfortpflanzung. Mit der neu entwickelten Daumenmethode werden die beiden Faktoren erst getrennt voneinander beurteilt und danach zusammengeführt. Die beiden Schneedeckentests ECT und KBT können mit dieser einfachen Methode dann den vier Stabilitätsklassen der EAWS zuordnen (vgl. Abb. 7):
Erster Daumen: Bruchinitiierung
Die Belastungsstufe, bei der ein Bruch erfolgt, ist ein Hinweis auf die Tendenz der Schwachschicht, zu brechen (Bruchinitiierung). Beim ECT helfen die „Schnapszahlen“ 11 und 22 dabei, Testergebnisse den drei Kategorien „Bruchinitiierung wahrscheinlich“ (= Daumen nach unten), „Bruchinitiierung möglich“ (= Daumen in Mittelstellung) und „Bruchinitiierung unwahrscheinlich“ (= Daumen hoch) zuzuweisen. Beim KBT sind dies die drei Abstufungen, mit denen der Testblock abgeklopft wird (leichtes, mäßiges bzw. starkes Klopfen). Der Daumen zur Bewertung der Bruchinitiierung kann beim KBT von versierten Anwendern in Richtung „weniger gefährlich“ gedreht werden, wenn die Bruchinitiierung wegen der Tiefe der Schwachschicht und der Härte des überlagernden Schnees unwahrscheinlich ist.
Zweiter Daumen: Bruchfortpflanzung
Die Bruchart ist ein Indiz dafür, ob sich ein Bruch innerhalb der Schwachschicht fortpflanzen kann. ECT-Ergebnisse mit vollständiger Bruchfortpflanzung (ECTP) entsprechen glatten Bruchflächen beim KBT (= Daumen nach unten), ECT-Ergebnisse mit teilweiser Bruchfortpflanzung (ECTpp) sind wie raue Bruchflächen beim KBT als mittel einzustufen (= Daumen in Mittelstellung) und ECT-Ergebnisse ohne Bruchfortpflanzung (ECTN) können wie KBT-Ergebnisse mit gestuften Bruchflächen als Indiz dafür betrachtet werden, dass sich Brüche innerhalb der Schwachschicht nicht fortpflanzen (= Daumen hoch).
Die Kombination der Daumenstellungen…
… führt, wie in Abb. 7 dargestellt, über die Kombination der beiden Daumenstellungen zu einer der vier EAWS-Stabilitätsklassen.
Im Rahmen einer Lawinen-Risikomanagement-Strategie muss die auf diese Weise erfolgte Abschätzung der Gefahr einer Lawinenauslösung zusätzlich hinsichtlich der drohenden Konsequenzen eines möglichen Lawinenabgangs beurteilt werden. Unter Berücksichtigung des gerade im Freizeitsport niemals zu viel beachteten „Faktor Mensch“ kann dann die richtige Verhaltensmaßnahme abgeleitet werden: zum Beispiel das Einhalten von Entlastungsabständen im Aufstieg, konsequentes Einzelfahren in der Abfahrt oder der Verzicht auf den Einzelhang und die Wahl einer sichereren Alternative.
Beim Lawinenwarndienst Bayern wurde die Daumenmethode in Kursen bereits erfolgreich erprobt. Sowohl Anfänger als auch Fortgeschrittene konnten innerhalb kurzer Zeit damit Testergebnisse problemlos in belastbare Aussagen zur Schneedeckenstabilität umwandeln. Voraussetzung dazu ist das Erlernen des Handwerkszeugs für die beiden Schneedeckentests. Wer größeres Hintergrundwissen hat, erhält beim analytischen Blick in die Schneedecke weitere Informationen (Schneedeckenaufbau, Härten und Kornformen der unterschiedlichen Schichten usw.), mit deren Hilfe die Gefahreneinschätzung weiter präzisiert werden kann. Insbesondere die Informationen zu Mächtigkeit und Härte der die Schwachschicht überlagernden Schicht(en) können die Aussage des KBT zur Bruchinitiierung in Richtung „bessere Stabilität“ beeinflussen. Da sich die beiden Aspekte jedoch andersrum hinsichtlich der potentiellen Lawinengröße eher in Richtung „gefährlicher“ verhalten, bedarf die Anwendung dieser Freiheit in der Testauslegung größeren lawinenkundlichen Hintergrundwissens.
Der Einführung des ECT in die Ausbildung der bayerischen Lawinenwarnzentrale folgt nun mit der Daumenmethode ein praktikables und einheitliches Verfahren zur Interpretation der Testergebnisse von KBT und ECT zur Beurteilung der Gefahr trockener Schneebrettlawinen. Lawinenkommissionen können als Gruppe mit Hilfe der Daumen anschaulich kommunizieren und die Lawinenwarnzentrale erwartet sich durch diese Neuerung künftig noch einheitlichere Informationen seitens ihrer Beobachter und Beobachterinnen aus dem Gelände. Kompetente Wintersportler und Wintersportlerinnen können die Methode anwenden, um Informationen aus dem Lawinenlagebericht im Gelände besser überprüfen zu können. Grundsätzlich gilt, dass jeder Schneedeckentest nicht mehr als eine punktuelle Betrachtung der komplexen Realität ist. Deshalb darf ein Testergebnis bei der Risikobewertung und der anschließenden Entscheidung – zu fahren oder nicht zu fahren – nie überbewertet werden. Wer jedoch viele Schneedeckentests durchführt, sich lawinenkundlich fortbildet und den Blick in die Schneedecke in Kombination mit Prozessdenken übt, verbessert damit sein Beurteilungsvermögen am Einzelhang nachhaltig.
Hier geht’s zum Faltblatt der Daumenmethode:
„Schneebrettgefahr? Gefahreneinschätzung mit dem analytischen Blick in die Schneedecke“
Weitere Beiträge zum Thema:
- THUMBS-UP FOR ANALYTIC SNOWPACK ASSESSMENT – PUTTING NEW EAWS STANDARDS INTO PRACTICE (Beitrag beim ISSW 2023; in englischer Sprache)
- Schneebrettgefahr? Blick in die Schneedecke und Daumenmethode (Lawinensymposium Graz Tagungsband 2023, S. 62; PDF 20MB)